Wer
ver(-)rückt ist oder von einem Standpunkt zu einem
anderen verrückt wurde, der ist – wörtlich
betrachtet – nicht dort, wo er vorher war oder wo
er sein soll und hingehört. Dass Psychologen heute
eher die Bezeichnung „krank“ verwenden, ist
allerdings nicht weniger fragwürdig – angesichts
dessen, was „gesund“ sein soll.
Wenn
ein Mensch „geisteskrank“ ist, dann kann jeder
– außer vielleicht dem Betroffenen – etwas
mit dieser Diagnose anfangen. Dem gegenüber klingt
der Begriff „Geistesgesundheit“ deutlich seltsamer
für deutsche Ohren. Wohl erst recht die in anderen
Sprachen durchaus übliche „Geisteshygiene“.
Dem
Trend und Boom der Gehirnforschung folgend, sind heute oftmals
auch Gehirnkrankheiten gemeint, wenn von „Geisteskrankheit“
die Rede ist: Schäden und Erkrankungen durch Vererbung,
Infektionen, Verletzungen oder Stoffwechselstörungen,
zum Beispiel.
Als
„Geisteskrankheit“ wird ganz generell ein Verhalten
betrachtet und bezeichnet, das in der Gesellschaft nicht
akzeptiert ist und daher als „nicht normal“
gilt. Wobei es sich lohnen kann, sich zunächst einmal
genau damit etwas näher zu beschäftigen:
Was
ist eigentlich „normal“?
Fließende Grenzen, die keine sind
Es gibt
rund 2,5 Millionen Alkoholkranke in Deutschland, über
9 Millionen stehen an der „Schwelle zur Sucht”,
mehr als 1,5 Millionen Menschen leiden unter so genannten
Zwangsneurosen (Kaufsucht, dauerndes Putzen / Händewaschen,
Sortieren etc), mehr als 1,2 Millionen unter Demenzerkrankungen
(Aggressivität, Stimmungswechsel, chronisches Misstrauen),
es gibt mehr als 1,3 Millionen Medikamentenabhängige,
etwa 150.000 Spielsüchtige, dazu 6,2 Mio. an der „Schwelle
zur Spielsucht”, weiterhin 1,5 Millionen Internetsüchtige
und nicht weniger als 4 Millionen Deutsche, die unter chronischer
Depression leiden – nur auszugs- und beispielsweise.
Insgesamt
sind also zwischen etwa 15 und 20 Millionen Deutsche „nicht
ganz normal“. Und das einmal ganz abgesehen von Fällen,
in denen Menschen unter Überforderung, Stress, „psychischer
Ermüdung“, Zukunftsangst, „Burnout-Syndromen“
und etlichem anderem leiden, und diese Belastung auf irgendeine
Weise irgendwohin kanalisieren. Nicht selten auf der Autobahn
mit der Lichthupe oder indem sie sich von der Brücke
stürzen: Jährlich werden in Deutschland etwa 11.000
Selbstmorde verübt, das sind 30 Menschen pro Tag, darunter
mindestens ein Jugendlicher. Wer will das alles ernsthaft
als „normal“ betrachten?
Und
das wiederum ganz abgesehen vom so genannten „Mobbing”
am Arbeitsplatz. Etwa 60% der Arbeitnehmer haben sich bereits
einmal gemobbt gefühlt oder tun es immernoch. Weder
die Erkrankungen, die Mobbing-Opfer davon haben, noch die
seltsamen Motivationen der Ausübenden wird hoffentlich
niemand für annähernd „normal“ halten.
Insofern: Was ist nun „normal“ und was ist es
nicht? Was ist normal daran, Alkoholsüchtige inzwischen
als „krank“ zu betrachten, nikotinsüchtige
Raucher dagegen schlicht als störend und lästig?
Erwünschtes
Dahintreiben: Angelegte Maßstäbe
Die
„Normalität“ und das, was dafür gehalten
wird, ist also extrem trügerisch. Es ist nichts, das
von irgendeiner Kommission als Norm festgelegt wurde, sondern
vielmehr so etwas wie eine „stille Vereinbarung“
und unausgesprochene Verhaltensregeln, die sich wie auch
immer ergeben und warum auch immer etabliert haben.
Die
große Masse der Menschen folgt diesen Regeln und Normen,
um nicht groß aufzufallen und nicht als „anormal“
zu gelten. Man treibt lieber im Strom der Mehrheit dahin,
weil das energiesparender ist, als dagegen anzuschwimmen.
Wer will das ernsthaft kritisieren; in einer Zeit, in der
ohnehin alles mögliche auf Effizienz hin optimiert
wird?
Was
also „normal“ und „nicht-normal“
ist, sind lediglich angelernte, antrainierte und der Einfachheit
halber schlicht übernommene Vorstellungen, Überzeugungen,
Normen und Wertmaßstäbe. Und das sollte eigentlich
nicht ausreichen dürfen, um „den Geist“
irgendeines Menschen als krank zu bezeichnen, der therapiert
werden müsse. Umso schlimmer, wenn es als gesund betrachtet
wird, ein „nützliches Mitglied der Gesellschaft“
zu sein, das in genormte Raster passt und Konventionen kritik-
und widerspruchslos folgt. |